Editorial Die Frage …
… was jemand dazu beigetragen hat, dass er zum Ziel eines Verbrechens wurde, ist heikel. Sie bagatellisiert das Leid des Opfers, das ja „ein bisschen auch selbst schuld“ sei, und sie relativiert die Verantwortung desjenigen, der sich ganz allein entschieden hat, einer Person dieses Leid zuzufügen. Eine andere Frage hingegen ist sehr wichtig: Was hat die Gesellschaft dazu beigetragen? In dieser Ausgabe finden Sie zwei Geschichten, die sich besonders intensiv damit auseinandersetzen. Der „Handschellenmann“ machte in den 1980er-Jahren Jagd auf homosexuelle Männer. Seine Taten waren möglich, weil Menschen von der Gesellschaft geächtet und von den Behörden nicht geschützt wurden. Auf die Verantwortung des Systems verweisen auch die Überlebenden eines der größten Skandale der Sportgeschichte: Larry Nassar, Arzt des Verbands USA Gymnastics, missbrauchte über 250 Turnerinnen, teils als sie noch Kinder waren. Unser Fotoessay handelt davon, wie auch diese Taten durch die gesellschaftliche Rolle der Opfer möglich wurden. Die Turnerinnen waren aber keine Geächteten. Im Gegenteil: Sie galten als Teil einer Elite; manche von ihnen wurden Olympiasiegerinnen. Sie sollten als Lichtgestalten dienen, und deshalb wurden ihnen Disziplin und Leidensfähigkeit abverlangt und vor allem: nie zu klagen. Die Kaderschmiede, der Apparat, der sie zu Heldinnen ihrer Nation formen sollte, durfte nicht angezweifelt werden. Jeder Hinweis wurde abgeschmettert. Beste Voraussetzungen für einen Verbrecher wie Nassar. Beide Geschichten sowie alle anderen dieser Ausgabe können Abonnentinnen und Abonnenten ab sofort auch als E-Paper lesen.